Drei Schlüsselmerkmale von Focusing

von | Mai 16, 2018 | Moderne Spiritualität | 1 Kommentar

Von Ann Weiser Cornell

Erschienen in The Focusing Connection, März 1998

(Ins Deutsche übertragen von Karin Meyer)

Es gibt drei Schlüsseleigenschaften bzw. Merkmale, die Focusing von jeder anderen Methode für innere Achtsamkeit und persönliches Wachstum unterscheiden. Die erste ist etwas, das der „Felt Sense“ genannt wird. Die zweite ist eine besondere Art der engagierten annehmenden inneren Aufmerksamkeit. Und die dritte ist eine radikale Philosophie von dem, was Veränderung fördert. Wir wollen diese Schlüsseleigenschaften eine nach der anderen behandeln.

Zum Focusing-Prozess gehört es, in den Körper zu gehen und dort eine besondere Art von Körpergefühl zu finden, das wir „Felt Sense“ nennen. Eugene Gendlin war der Erste, der ihm einen Namen gab und auf einen Felt Sense hinwies, obwohl menschliche Wesen immer Felt Senses gehabt haben, seit sie menschliche Wesen sind. Ein Felt Sense ist – um es einfach auszudrücken – ein Körpergefühl, das eine Bedeutung hat. Sie sind sich bestimmt schon irgendwann in Ihrem Leben eines Felt Sense bewusst geworden und möglicherweise spüren Sie oft einen.

Stellen Sie sich vor, Sie telefonieren mit jemandem, den Sie lieben, der weit weg ist, Sie vermissen diesen Menschen sehr und Sie haben gerade bei diesem Telefonat die Mitteilung erhalten, dass Sie ihn nicht so bald wieder sehen werden. Sie legen auf und Sie fühlen eine Schwere in Ihrem Brustkorb, vielleicht in der Herzgegend. Oder nehmen wir an, Sie sitzen in einem Raum voller Menschen, jeder kommt an die Reihe, etwas zu sagen, und während die Reihe näher und näher an Sie heranrückt, fühlen Sie eine Anspannung in Ihrem Magen, wie eine Feder, die immer weiter aufgezogen wird. Oder nehmen wir an, Sie machen einen Spaziergang an einem wunderschönen frischen Morgen, gerade nach einem Regen, und Sie kommen über einen Hügel und vor Ihnen in der Luft steht ein vollkommener Regenbogen, dessen beide Enden den Boden berühren, und während Sie da stehen und schauen, fühlen Sie, wie in Ihrem Brustkorb ein sich ausdehnendes, fließendes, warmes Gefühl aufsteigt. Das alles sind Felt Senses.

Wenn Sie nur mit Emotionen arbeiten, dann ist Angst Angst. Es ist nur Angst, nicht mehr. Aber wenn Sie auf der Ebene des Felt Sense arbeiten, können Sie spüren, dass diese Angst, die Sie gerade jetzt fühlen, sich von der Angst, die Sie gestern gefühlt haben, unterscheidet. Vielleicht war die Angst von gestern wie ein kalter Felsbrocken im Magen und die Angst von heute ist wie ein Zurückweichen. Wenn Sie bei der Angst von heute bleiben, fangen Sie an, etwas wie ein scheues Geschöpf zu fühlen, das zurück in eine Höhle gezogen wird. Sie bekommen das Gefühl, dass wenn Sie lange genug bei ihm sitzen, Sie sogar den wirklichen Grund herausfinden könnten, warum es so ängstlich ist. Ein Felt Sense ist oft zart und wenn Sie ihm Aufmerksamkeit schenken, entdecken Sie, dass er komplex ist. Es ist mehr da. Wir haben ein Vokabular für die Emotionen, die wir wieder und wieder fühlen, aber jeder Felt Sense ist anders. Sie können trotzdem mit einer Emotion anfangen und dann den Felt Sense dazu spüren, wie Sie ihn jetzt gerade in Ihrem Körper fühlen.

Einen Felt Sense zu spüren ist nichts, was auch andere Methoden lehren. Außer denen, die Focusing betreiben, spricht keiner über diese Erfahrungsdimension, die weder Emotion noch Gedanke ist, die zart ist, aber trotzdem konkret gefühlt wird und absolut körperlich real ist.  Den Felt Sense zu spüren ist eins der Merkmale, die Focusing ausmachen.

Das zweite Schlüsselmerkmal von Focusing ist eine besondere Art der engagierten annehmenden inneren Aufmerksamkeit.

Im Focusing-Prozess bringen Sie dem Felt Sense, nachdem Sie sich seiner bewusst geworden sind, eine besondere Art der Aufmerksamkeit entgegen. Ich drücke das gerne so aus: Sie setzen sich hin, um ihn besser kennen zu lernen. Ich nenne diese Qualität gerne „interessierte Neugier“. Wenn Sie diese interessierte Neugier in eine Beziehung zu dem Felt Sense bringen, sind Sie offen dafür, das zu spüren, was da, aber noch nicht in Worte gefasst ist. Dieser Prozess des Spürens braucht Zeit – er ist nicht unmittelbar da. Im Idealfall hat man also die Bereitschaft, sich diese Zeit zu nehmen, zu warten, am Rand von dem Noch-nicht-recht-wissen, was das ist –  geduldig, akzeptierend, neugierig und offen. Langsam spüren Sie mehr. Das kann etwa so sein, wie wenn Sie in einen verdunkelten Raum kommen und da sitzen. Und wenn Ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnt haben, nehmen Sie mehr wahr als anfangs. Sie hätten auch in den Raum kommen und dann wieder forteilen können, ohne achtzugeben, ob Sie da irgendetwas spüren. Es ist die Achtsamkeit, das Interesse, der Wunsch, es kennen zu lernen, was einen mehr erfahren lässt.

Es findet kein Versuch, irgendetwas zu verändern, statt. An nichts wird irgendetwas gemacht. In diesem Sinn ist dieser Prozess sehr annehmend. Wir akzeptieren, dass dieser Felt Sense hier ist, so wie er ist, gerade jetzt. Wir sind interessiert daran, wie er ist. Wir wollen ihn kennen lernen, so wie er ist.

Trotzdem ist da etwas, was mehr ist als nur das Akzeptieren. In dieser interessierten, neugierigen inneren Aufmerksamkeit ist auch eine zuversichtliche Erwartung, dass dieser Felt Sense sich auf seine eigene Weise verändern wird, dass er etwas tun wird, was Gene Gendlin „Schritte machen“ nennt. Was bedeutet „Schritte machen“?

Die Innenwelt ist nie statisch. Wenn Sie ihr Bewusstheit entgegenbringen, entfaltet sie sich, kommt in Bewegung, wird ihr eigener nächster Schritt.

Eine Frau fokussiert beispielsweise auf ein schweres Gefühl in der Brust, von dem sie spürt, dass es mit der Beziehung zu einer Freundin verbunden ist. Die Fokussierende hat kürzlich ihre Arbeit aufgegeben und sie hat gerade entdeckt, dass die Freundin sich für diese Position bewirbt. Sie hat sich wiederholt gesagt, dass das nicht wichtig ist, aber das Gefühl, dass etwas verkehrt ist, blieb. Jetzt setzt sie sich hin und fokussiert.

Sie bringt die Aufmerksamkeit in den Raum von Hals-Brust-Bauch in ihrem Körper und bald entdeckt sie dieses schwere Gefühl, das die ganze Woche lang irgendwie da war. Sie sagt „Hallo“ zu ihm. Sie beschreibt es erneut: „Schwer… auch angespannt… besonders in Magen und Brustkorb.“ Dann setzt sie sich mit ihm hin, um es besser kennen zu lernen. Sie ist interessiert und neugierig. Beachten Sie, wie dieses Interesse und diese Neugier das Gegenteil von dem ist, was sie vorher gemacht hat, nämlich sich selbst zu sagen, dass das nicht wichtig ist. Sie wartet, mit dieser engagierten, akzeptierenden Aufmerksamkeit.

Sie kann spüren, dass dieser Teil von ihr ärgerlich ist. „Wie konnte sie nur? Wie konnte sie das nur tun?“, sagt er über ihre Freundin. Normalerweise wäre sie in Versuchung, sich zu sagen, dass ärgerlich zu sein unangemessen ist, aber das ist jetzt Focusing, also sagt sie nur zu dieser Stelle „Ich höre dich“ und wartet mit Interesse und Neugier auf das „Mehr“, das da ist.

Nach einer Minute fängt sie an zu spüren, dass dieser Teil von ihr auch traurig ist. „Traurig“ überrascht sie, traurig hat sie nicht erwartet. Sie fragt: „Oh, was macht dich traurig?“ Als Antwort spürt sie etwas wie „entwertet sein“. Sie wartet, da ist mehr. Oh, es hat etwas damit zu tun, dass ihr nicht geglaubt wurde! Als sie versteht, dass es etwas damit zu tun hat, dass ihr nicht geglaubt wurde, kommt ein plötzlicher Ansturm von Erinnerungen: all die Male, die sie ihrer Freundin erzählt hat, wie schwierig es war, für ihren Chef zu arbeiten. „Es ist, als ob sie mir nicht geglaubt hat“, ist das Gefühl.

Jetzt fühlt unsere Fokussierende Befreiung in ihrem Körper. Das war ein Schritt. Das Auftauchen von „traurig“ nach dem Ärger war auch ein Schritt. Der Focusing-Prozess ist eine Reihe von Veränderungsschritten, in der jeder eine frische Einsicht und eine frische körperliche Befreiung bringt, ein Aha! Ist dies das Ende? Sie hätte sicher hier aufhören können. Aber wenn sie weitermachen wollte, würde sie zu dem Gefühl, dass ihr nicht geglaubt wurde, zurückgehen und ihm wieder interessierte Neugier entgegenbringen. Es könnte sein, dass für sie etwas Besonderes darin ist, dass ihr nicht geglaubt wurde, etwas, das mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist, was wiederum Befreiung bringt, wenn es gehört und verstanden wird.

Focusing bringt Einsicht und Befreiung, aber das ist nicht alles, was es bringt. Es führt auch zu neuem Verhalten. Im Fall dieser Frau können wir uns leicht vorstellen, dass jetzt die Art, wie sie sich ihrer Freundin gegenüber verhält, offener, auf eine angemessenere Weise vertrauensvoll ist. Es kann sein, dass andere Gebiete ihres Lebens mit diesem Gefühl, dass ihr kein Glauben geschenkt wird, verbunden waren, und die werden sich nach diesem Prozess auch verwandeln. Dieses neue Verhalten ergibt sich auf einfache, natürliche Weise, ohne dass etwas mit Willenskraft oder Anstrengung getan werden muss. Und das führt uns zu der dritten Eigenschaft von Focusing.

Die dritte Schlüsseleigenschaft oder das dritte Schlüsselmerkmal, das Focusing von jeder anderen Methode der inneren Achtsamkeit und des persönlichen Wachstums unterscheidet, ist eine radikale Philosophie darüber, was Veränderung fördert.

Wie verändern wir uns? Wie verändern wir uns nicht? Wenn Sie wie viele der Menschen sind, die sich für Focusing interessieren, fühlen Sie sich wahrscheinlich festgefahren oder blockiert in einem oder mehreren Gebieten Ihres Lebens. Da ist etwas an Ihnen oder Ihren Lebensumständen oder Ihren Gefühlen und Reaktionen auf Dinge, das Sie ändern möchten. Das ist nur natürlich. Aber lassen Sie uns nun zwei Wege gegenüberstellen, an diesen Wunsch zur Veränderung heranzugehen.

Ein Weg nimmt Folgendes an: Wenn man will, dass sich etwas ändert, muss man es dazu bringen, dass es sich ändert.  Man muss etwas tun damit. Wir können das den Weg des Tun-und-in-Ordnung-Bringens nennen. Der andere Weg, den wir den Weg des Dabei-Sein-und-Zulassens nennen können, nimmt an, dass Veränderung und Fluss der natürliche Lauf der Dinge sind. Und wenn etwas sich nicht zu verändern scheint, sind es aufmerksame Zuwendung und Bewusstheit, was es braucht – mit einer Haltung, die ihm erlaubt, so zu sein, wie es ist, aber offen bleibt für seine nächsten Schritte.

Unser Alltagsleben ist tief durchdrungen von der Einstellung des Tun-und-in-Ordnung-Bringens. Wenn Sie einer Freundin ein Problem erzählen, wie oft ist deren Reaktion, dass sie Ihnen einen Rat gibt, wie Sie das Problem in Ordnung bringen können. Viele unserer modernen Therapiemethoden enthalten auch diese Einstellung. Die Kognitive Therapie zum Beispiel fordert Sie auf, Ihr Gespräch mit sich selbst zu ändern. Hypnotherapie bringt häufig neue Bilder und Überzeugungen ins Spiel, um alte zu ersetzen. Somit ist die Philosophie des Dabei-Sein-und-Zulassens, die Focusing verkörpert, eine radikale Philosophie. Sie drehtunsere üblichen Erwartungen und Weltansichten um. Es ist fast so, als ob ich Ihnen sagen würde, dass dieser Stuhl, auf dem Sie sitzen, ein Elefant werden möchte, und wenn Sie ihm interessierte Aufmerksamkeit entgegenbringen, wird er anfangen, sich zu verwandeln. Was für eine abenteuerliche Idee! Aber so abenteuerlich klingt es für einen tief verwurzelten Teil von uns, wenn uns gesagt wird, dass eine Angst, die wir fühlen, sich in etwas verwandeln könnte, was überhaupt keine Angst ist, wenn ihr interessierte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.

Wenn Menschen, die mit Focusing zu tun haben, über „die Weisheit des Körpers“ reden, ist es das, was sie meinen: dass der Felt Sense „weiß“, was sein nächster Schritt sein muss, so sicher, wie ein Baby weiß, dass es Wärme und Behaglichkeit und Nahrung braucht. So sicher, wie ein Radieschensame weiß, dass er zum Radieschen heranwachsen wird. Wir müssen niemals dem Felt Sense sagen, was er werden soll, wir müssen ihn nicht dazu bringen, dass er sich verwandelt. Wir müssen nur die Bedingungen schaffen, die ihm erlauben, sich zu verwandeln, ähnlich wie ein guter Gärtner für Licht und Boden und Wasser sorgt, ohne dem Radieschen zu sagen, dass es eine Gurke werden soll.

Om Mani Padme Hum ?

Da ich immer daran interessiert bin, dich näher kennen zu lernen, würde ich mich sehr freuen, wenn du unter diesen Artikel etwas darüber schreibst, was dich gerade am stärksten zu diesem Thema bewegt. ?

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Literatur:

Es wird darauf hingewiesen, dass dieser Blog nicht zur Diagnose und Behandlung medizinischer und psychischer Erkrankung gedacht ist. Bei einer entsprechenden Indikation wird an die Eigenverantwortung der LeserInnen appelliert, einen fachkundigen und entsprechend ausgebildeten Mediziner, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker aufzusuchen.

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