Der erste Draht eines weiblichen Spaliers ist fast immer am Körper befestigt.
Es beginnt früher, als wir es erinnern.
Früher als Sprache.
Früher als Selbstbewusstsein.
Früher als jede bewusste Wahrnehmung davon, wer wir sind.
Es beginnt in dem Moment, in dem ein Mädchen spürt, dass ihr Körper gesehen wird, bevor sie selbst gesehen wird.
Nicht als Person.
Nicht als Wesen.
Nicht als Kind.
Sondern als etwas, das bewertet werden kann.
Als Projekt.
Als Oberfläche, die kommentiert, beurteilt, eingeordnet wird.
Als mögliche Gefahr oder mögliche Trophäe.
Noch bevor sie überhaupt weiß, was diese Kategorien bedeuten.
Der weibliche Körper ist in unserer Kultur kein neutraler Ort.
Er ist das erste System der Ordnung, Kontrolle und Zuschreibung.
Das erste System, an dem Mädchen lernen, wie sie
„richtig“,
„sicher“ oder
„akzeptabel“ wirken sollen.
Und das erste System, an dem sie erfahren, was passiert, wenn sie es nicht tun.
Sichtbarkeit ist für Mädchen kein Schönheitskonzept.
Sichtbarkeit ist ein Überlebensprogramm.
Unsichtbarkeit kann gefährlich werden.
Falsch-Sichtbarkeit noch mehr.
Zwischen diesen beiden Polen – nicht gesehen und zu sehr gesehen – entsteht später das, was wir Body Consciousness nennen.
Doch Body Consciousness hat mit Körper kaum etwas zu tun.
Es ist ein Nervensystem, das früh lernt, welchen Preis Sichtbarkeit hat.
Ein Mädchen merkt sehr früh, wenn die Blicke sich verändern.
Wenn Bemerkungen nicht mehr beiläufig, sondern bewertend sind.
Wenn der Körper plötzlich als Signal gilt, statt einfach Teil eines wachsenden Lebens zu sein.
In diesem Feld entstehen drei frühe Prägungen, die Frauen Jahrzehnte später noch tragen:
- Mein Körper ist eine Botschaft.
- Ich muss Verantwortung für diese Botschaft übernehmen.
- Wenn etwas passiert, ist es mein Körper, der schuld ist.
Nicht, weil sie das logisch verstehen.
Sondern weil sie es somatisch erleben.
In Momenten, die still bleiben, unausgesprochen – aber im Nervensystem gespeichert.
Viele Frauen – und viele Mädchen – kennen eine solche Szene:
Ein Erwachsener überschreitet eine Grenze.
Ein Zugriff, ein Kommentar, ein Blick, der zu viel weiß und zu wenig Verantwortung trägt.
Und plötzlich wird das Mädchen verantwortlich gemacht für etwas, das sie weder wollte noch verstand.
Oft folgt eine Schuldumkehr:
„Du siehst älter aus.“
„Du hast das provoziert.“
„Du bist zu hübsch.“
„Wenn du das nicht willst, dann schau halt anders aus.“
Der Körper wird zum Schuldträger für das Verhalten eines Erwachsenen.
Das ist der erste Draht.
Er wird nicht bewusst gelegt, aber er zieht sich durchs Leben.
Wenn der Körper gefährlich sein kann, beginnen Mädchen, ihn zu kontrollieren.
Wenn der Körper Schuld tragen kann, beginnen Mädchen, ihn zu korrigieren.
Wenn der Körper „zu viel“ sein kann, beginnen Mädchen, ihn zu verkleinern.
Nicht aus Eitelkeit.
Aus Überleben.
Zweite Schicht: Der Körper als soziale Währung
Jugend. Dating. Schule.
Die ersten Räume, in denen der Blick der Jungen – und die Konkurrenz der Mädchen – einen eigenen Mikrokosmos bilden.
Ein Mädchen, das nicht gesehen wird, fühlt sich falsch.
Ein Mädchen, das zu sehr gesehen wird, fühlt sich unsicher.
Und Mädchen, die von den falschen Männern gesehen werden, werden oft manipuliert, benutzt, gebunden an Aufmerksamkeit, die sich später als Gefahr entpuppt.
Loverboys, Grooming, digitale Sexualisierung – keine Randphänomene.
Sondern moderne Varianten eines uralten Musters:
Der weibliche Körper als Zugriffspunkt.
Die Welt hat sich verändert, aber das System dahinter ist gleichgeblieben.
Der weibliche Körper ist nicht frei.
Er ist bewertet.
Belohnt.
Missverstanden.
Verkauft.
Monetisiert.
Verglichen.
Gefiltert.
Verfügbar gemacht.
Nie zuvor waren Lippen voller, Gesichter glatter, Silhouetten stärker korrigiert,
Körper marktfähiger.
Nie zuvor war die Botschaft so laut:
„Dein Wert ist dein Körper – und dein Körper gehört nicht dir.“
Social Media ist nicht der Ursprung.
Es ist der Verstärker.
Ein Katalysator für ein System, das lange vor den Likes existierte.
Dritte Schicht: Der Körper als Professionalitätskriterium
Viele Frauen betreten die Arbeitswelt mit Kompetenz, Erfahrung, Wissen – und stoßen auf eine stille Wahrheit:
Sie werden zuerst als Körper gelesen, dann erst als Führungskraft.
Ich erinnere mich an ein Interview, in dem ein Mann mich mit vollem Ernst fragte:
„Wie glauben Sie, ein Hotel managen zu können, wenn Sie nicht einmal Ihren Körper managen können?“
Ich war 42.
Mit einer langjährigen Schilddrüsenerkrankung.
Zwanzig Kilo mehr.
Kompetent.
Qualifiziert.
International ausgebildet.
Und in einem Satz verschwand all das.
Nicht, weil ich „falsch“ war.
Sondern, weil ich eine Frau war, die nicht dem Klischee entsprochen hat.
Dieser Satz war kein Ausrutscher.
Er ist kultureller Code.
Er sagt:
„Professionelle Kompetenz beginnt bei Frauen am Körper.“
Männer werden nicht mit dieser Logik konfrontiert.
Ihr Körper ist neutral.
Unbeachtet.
Professionell irrelevant.
Nie hat jemand einen männlichen CEO gefragt, wie er ein Unternehmen führen wolle, wenn er „seinen Bauch nicht im Griff“ habe.
Frauenkörper sind immer im Raum – ob sie wollen oder nicht.
Und so wird der Körper zum Spalier, an dem wir uns schmal machen, passend machen, stark machen, unsichtbar machen, kontrollierbar machen.
Der erste Draht — immer der Körper.
Und dieser Draht bleibt.
Über Jahrzehnte.
Über Karrieren.
Über Erfolge.
Über ganze Lebenswege hinweg.
Der Körper als System der Loyalitäten:
– zur Mutter, die selbst in Unsicherheit lebte.
– Zur Großmutter, die gelernt hatte, dass weibliche Würde über Disziplin läuft.
– Zu einer Gesellschaft, die Frauen mehr für ihr Aussehen belohnt als für ihre Integrität.
– Zu einer Arbeitswelt, in der Professionalität und Körperkontrolle fälschlich miteinander verwoben wurden.
Wir sprechen selten darüber.
Wir sprechen lieber über:
Ernährung,
Fitness,
Wellness.
Über Selbstliebe.
Über Optimierung.
Aber wir sprechen kaum über die Wahrheit:
Frauen verlieren sich nicht im Außen – sie verlieren sich im Verhältnis zu ihrem Körper.
Darum bleiben Frauen oft zu lange.
In Beziehungen.
In Firmen.
In Rollen.
In Räumen, die ihnen nicht guttun.
Nicht, weil sie nicht wissen, wie man geht.
Sondern weil sie gelernt haben:
Nicht-Gesehenwerden ist gefährlich.
Falsch-Gesehenwerden erst recht.
Vierte Schicht: Der Körper als Maya
Maya wirkt im Körper, weil er die sichtbarste Form ist — und zugleich die verletzlichste.
Dort sitzt die Täuschung am tiefsten.
Die tiefste Illusion über die weibliche Identität ist nicht Scham.
Scham ist ein Symptom.
Die tiefste Illusion lautet:
„Wenn ich schön genug bin, bin ich sicher.“
„Wenn ich attraktiv genug bin, bin ich wertvoll.“
„Wenn ich begehrt werde, werde ich gesehen.“
Das ist Maya.
Die Illusion der Form.
Die Täuschung über Macht.
Der Schleier, der Frauen glauben lässt, dass ihre Freiheit außerhalb beginnt.
Aber die Wahrheit ist härter:
Der Körper ist der erste Ort, an dem Frauen lernen, sich selbst zu verlieren.
Und der letzte Ort, an dem sie lernen, sich selbst zurückzuholen.
Denn der Körper ist der Ort, an dem Integrität zuerst kippt.
Wenn wir unseren Körper als Projekt behandeln,
behandeln wir uns selbst als Projekt.
Wenn wir den Körper als Risiko sehen,
sehen wir uns selbst als Risiko.
Wenn wir im Körper Misstrauen empfinden,
ziehen wir uns von uns selbst zurück.
Perfektionismus, Selbstkritik, Selbstüberwachung —
das sind keine Charakterzüge.
Es sind Überlebensprogramme des Nervensystems, die entstehen, wenn Frauen lernen, dass Sicherheit von äußeren Erwartungen abhängt.
Was aber, wenn der Körper nicht das Problem war?
Was, wenn der Körper nie „falsch“ war —
sondern einfach der erste Ort, an dem der Weltzugriff sichtbar wurde?
Was, wenn Freiheit nicht beginnt, wenn wir unseren Körper verändern —
sondern wenn wir den ersten Draht lösen?
Denn irgendwann in jedem weiblichen Leben taucht die Frage auf:
Wem gehört mein Körper eigentlich?
Mir – oder allen anderen?
Und irgendwann beginnt die Rückkehr.
Der Körper wird wieder zu einem inneren Zuhause.
– Zu einem Ort, der uns gehört.
– Zu einem Resonanzraum, der nicht performt.
– Zu einer Struktur, die nicht bewertet wird.
– Zu einer Identität, die nicht vom Außen abhängig ist.
Rückkehr ist kein Glow-Up.
Keine Selbstliebe-Challenge.
Kein Empowerment-Meme.
Rückkehr ist die Entscheidung:
„Mein Körper gehört mir.
Nicht der Kultur.
Nicht dem Blick.
Nicht den Männern.
Nicht der Schuld.“
Rückkehr beginnt dort, wo der erste Draht gelöst wird.
Wo der Körper nicht länger System der Kontrolle ist,
sondern System der Wahrheit.
Wo ein Mädchen, das zu früh gelernt hat, sich falsch zu fühlen, endlich als Frau in ihre eigene Wahrheit zurückkehrt.
Was einst Spalier war, wird wieder Baum.
Wird wieder Wurzel.
Wird wieder Zuhause.
Ein Körper, der nicht performt, sondern gehört.
Ein Körper, der nicht entschuldigt, sondern spricht.
Ein Körper, der nicht perfektioniert wird, sondern bewohnt wird.
Freiheit beginnt genau hier.
Nicht im Mindset.
Nicht im Beruf.
Nicht in Beziehungen.
Nicht im Mut nach außen.
Sondern im ersten System, das uns geprägt hat.
Im ersten System, das wir loslassen können.
Im ersten System, das uns zurückgegeben werden will:
im Körper.
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Über die Autorin
30 Jahre internationale Führungserfahrung — davon 20 Jahre in leitenden Corporate-Positionen — sowie 15 Jahre an der Seite von Frauen in hohen Verantwortungsräumen.
Renate Hechenberger öffnet Räume, in denen die innere Architektur sichtbar wird — eine Architektur, die Frauen in ihrer weiblichen Kraft verankert.
© 2025 Renate Hechenberger. Alle Rechte vorbehalten.
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