Drei Schlüsselmerkmale von Focusing

Drei Schlüsselmerkmale von Focusing

Von Ann Weiser Cornell

Erschienen in The Focusing Connection, März 1998

(Ins Deutsche übertragen von Karin Meyer)

Es gibt drei Schlüsseleigenschaften bzw. Merkmale, die Focusing von jeder anderen Methode für innere Achtsamkeit und persönliches Wachstum unterscheiden. Die erste ist etwas, das der „Felt Sense“ genannt wird. Die zweite ist eine besondere Art der engagierten annehmenden inneren Aufmerksamkeit. Und die dritte ist eine radikale Philosophie von dem, was Veränderung fördert. Wir wollen diese Schlüsseleigenschaften eine nach der anderen behandeln.

Zum Focusing-Prozess gehört es, in den Körper zu gehen und dort eine besondere Art von Körpergefühl zu finden, das wir „Felt Sense“ nennen. Eugene Gendlin war der Erste, der ihm einen Namen gab und auf einen Felt Sense hinwies, obwohl menschliche Wesen immer Felt Senses gehabt haben, seit sie menschliche Wesen sind. Ein Felt Sense ist – um es einfach auszudrücken – ein Körpergefühl, das eine Bedeutung hat. Sie sind sich bestimmt schon irgendwann in Ihrem Leben eines Felt Sense bewusst geworden und möglicherweise spüren Sie oft einen.

Stellen Sie sich vor, Sie telefonieren mit jemandem, den Sie lieben, der weit weg ist, Sie vermissen diesen Menschen sehr und Sie haben gerade bei diesem Telefonat die Mitteilung erhalten, dass Sie ihn nicht so bald wieder sehen werden. Sie legen auf und Sie fühlen eine Schwere in Ihrem Brustkorb, vielleicht in der Herzgegend. Oder nehmen wir an, Sie sitzen in einem Raum voller Menschen, jeder kommt an die Reihe, etwas zu sagen, und während die Reihe näher und näher an Sie heranrückt, fühlen Sie eine Anspannung in Ihrem Magen, wie eine Feder, die immer weiter aufgezogen wird. Oder nehmen wir an, Sie machen einen Spaziergang an einem wunderschönen frischen Morgen, gerade nach einem Regen, und Sie kommen über einen Hügel und vor Ihnen in der Luft steht ein vollkommener Regenbogen, dessen beide Enden den Boden berühren, und während Sie da stehen und schauen, fühlen Sie, wie in Ihrem Brustkorb ein sich ausdehnendes, fließendes, warmes Gefühl aufsteigt. Das alles sind Felt Senses.

Wenn Sie nur mit Emotionen arbeiten, dann ist Angst Angst. Es ist nur Angst, nicht mehr. Aber wenn Sie auf der Ebene des Felt Sense arbeiten, können Sie spüren, dass diese Angst, die Sie gerade jetzt fühlen, sich von der Angst, die Sie gestern gefühlt haben, unterscheidet. Vielleicht war die Angst von gestern wie ein kalter Felsbrocken im Magen und die Angst von heute ist wie ein Zurückweichen. Wenn Sie bei der Angst von heute bleiben, fangen Sie an, etwas wie ein scheues Geschöpf zu fühlen, das zurück in eine Höhle gezogen wird. Sie bekommen das Gefühl, dass wenn Sie lange genug bei ihm sitzen, Sie sogar den wirklichen Grund herausfinden könnten, warum es so ängstlich ist. Ein Felt Sense ist oft zart und wenn Sie ihm Aufmerksamkeit schenken, entdecken Sie, dass er komplex ist. Es ist mehr da. Wir haben ein Vokabular für die Emotionen, die wir wieder und wieder fühlen, aber jeder Felt Sense ist anders. Sie können trotzdem mit einer Emotion anfangen und dann den Felt Sense dazu spüren, wie Sie ihn jetzt gerade in Ihrem Körper fühlen.

Einen Felt Sense zu spüren ist nichts, was auch andere Methoden lehren. Außer denen, die Focusing betreiben, spricht keiner über diese Erfahrungsdimension, die weder Emotion noch Gedanke ist, die zart ist, aber trotzdem konkret gefühlt wird und absolut körperlich real ist.  Den Felt Sense zu spüren ist eins der Merkmale, die Focusing ausmachen.

Das zweite Schlüsselmerkmal von Focusing ist eine besondere Art der engagierten annehmenden inneren Aufmerksamkeit.

Im Focusing-Prozess bringen Sie dem Felt Sense, nachdem Sie sich seiner bewusst geworden sind, eine besondere Art der Aufmerksamkeit entgegen. Ich drücke das gerne so aus: Sie setzen sich hin, um ihn besser kennen zu lernen. Ich nenne diese Qualität gerne „interessierte Neugier“. Wenn Sie diese interessierte Neugier in eine Beziehung zu dem Felt Sense bringen, sind Sie offen dafür, das zu spüren, was da, aber noch nicht in Worte gefasst ist. Dieser Prozess des Spürens braucht Zeit – er ist nicht unmittelbar da. Im Idealfall hat man also die Bereitschaft, sich diese Zeit zu nehmen, zu warten, am Rand von dem Noch-nicht-recht-wissen, was das ist –  geduldig, akzeptierend, neugierig und offen. Langsam spüren Sie mehr. Das kann etwa so sein, wie wenn Sie in einen verdunkelten Raum kommen und da sitzen. Und wenn Ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnt haben, nehmen Sie mehr wahr als anfangs. Sie hätten auch in den Raum kommen und dann wieder forteilen können, ohne achtzugeben, ob Sie da irgendetwas spüren. Es ist die Achtsamkeit, das Interesse, der Wunsch, es kennen zu lernen, was einen mehr erfahren lässt.

Es findet kein Versuch, irgendetwas zu verändern, statt. An nichts wird irgendetwas gemacht. In diesem Sinn ist dieser Prozess sehr annehmend. Wir akzeptieren, dass dieser Felt Sense hier ist, so wie er ist, gerade jetzt. Wir sind interessiert daran, wie er ist. Wir wollen ihn kennen lernen, so wie er ist.

Trotzdem ist da etwas, was mehr ist als nur das Akzeptieren. In dieser interessierten, neugierigen inneren Aufmerksamkeit ist auch eine zuversichtliche Erwartung, dass dieser Felt Sense sich auf seine eigene Weise verändern wird, dass er etwas tun wird, was Gene Gendlin „Schritte machen“ nennt. Was bedeutet „Schritte machen“?

Die Innenwelt ist nie statisch. Wenn Sie ihr Bewusstheit entgegenbringen, entfaltet sie sich, kommt in Bewegung, wird ihr eigener nächster Schritt.

Eine Frau fokussiert beispielsweise auf ein schweres Gefühl in der Brust, von dem sie spürt, dass es mit der Beziehung zu einer Freundin verbunden ist. Die Fokussierende hat kürzlich ihre Arbeit aufgegeben und sie hat gerade entdeckt, dass die Freundin sich für diese Position bewirbt. Sie hat sich wiederholt gesagt, dass das nicht wichtig ist, aber das Gefühl, dass etwas verkehrt ist, blieb. Jetzt setzt sie sich hin und fokussiert.

Sie bringt die Aufmerksamkeit in den Raum von Hals-Brust-Bauch in ihrem Körper und bald entdeckt sie dieses schwere Gefühl, das die ganze Woche lang irgendwie da war. Sie sagt „Hallo“ zu ihm. Sie beschreibt es erneut: „Schwer… auch angespannt… besonders in Magen und Brustkorb.“ Dann setzt sie sich mit ihm hin, um es besser kennen zu lernen. Sie ist interessiert und neugierig. Beachten Sie, wie dieses Interesse und diese Neugier das Gegenteil von dem ist, was sie vorher gemacht hat, nämlich sich selbst zu sagen, dass das nicht wichtig ist. Sie wartet, mit dieser engagierten, akzeptierenden Aufmerksamkeit.

Sie kann spüren, dass dieser Teil von ihr ärgerlich ist. „Wie konnte sie nur? Wie konnte sie das nur tun?“, sagt er über ihre Freundin. Normalerweise wäre sie in Versuchung, sich zu sagen, dass ärgerlich zu sein unangemessen ist, aber das ist jetzt Focusing, also sagt sie nur zu dieser Stelle „Ich höre dich“ und wartet mit Interesse und Neugier auf das „Mehr“, das da ist.

Nach einer Minute fängt sie an zu spüren, dass dieser Teil von ihr auch traurig ist. „Traurig“ überrascht sie, traurig hat sie nicht erwartet. Sie fragt: „Oh, was macht dich traurig?“ Als Antwort spürt sie etwas wie „entwertet sein“. Sie wartet, da ist mehr. Oh, es hat etwas damit zu tun, dass ihr nicht geglaubt wurde! Als sie versteht, dass es etwas damit zu tun hat, dass ihr nicht geglaubt wurde, kommt ein plötzlicher Ansturm von Erinnerungen: all die Male, die sie ihrer Freundin erzählt hat, wie schwierig es war, für ihren Chef zu arbeiten. „Es ist, als ob sie mir nicht geglaubt hat“, ist das Gefühl.

Jetzt fühlt unsere Fokussierende Befreiung in ihrem Körper. Das war ein Schritt. Das Auftauchen von „traurig“ nach dem Ärger war auch ein Schritt. Der Focusing-Prozess ist eine Reihe von Veränderungsschritten, in der jeder eine frische Einsicht und eine frische körperliche Befreiung bringt, ein Aha! Ist dies das Ende? Sie hätte sicher hier aufhören können. Aber wenn sie weitermachen wollte, würde sie zu dem Gefühl, dass ihr nicht geglaubt wurde, zurückgehen und ihm wieder interessierte Neugier entgegenbringen. Es könnte sein, dass für sie etwas Besonderes darin ist, dass ihr nicht geglaubt wurde, etwas, das mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist, was wiederum Befreiung bringt, wenn es gehört und verstanden wird.

Focusing bringt Einsicht und Befreiung, aber das ist nicht alles, was es bringt. Es führt auch zu neuem Verhalten. Im Fall dieser Frau können wir uns leicht vorstellen, dass jetzt die Art, wie sie sich ihrer Freundin gegenüber verhält, offener, auf eine angemessenere Weise vertrauensvoll ist. Es kann sein, dass andere Gebiete ihres Lebens mit diesem Gefühl, dass ihr kein Glauben geschenkt wird, verbunden waren, und die werden sich nach diesem Prozess auch verwandeln. Dieses neue Verhalten ergibt sich auf einfache, natürliche Weise, ohne dass etwas mit Willenskraft oder Anstrengung getan werden muss. Und das führt uns zu der dritten Eigenschaft von Focusing.

Die dritte Schlüsseleigenschaft oder das dritte Schlüsselmerkmal, das Focusing von jeder anderen Methode der inneren Achtsamkeit und des persönlichen Wachstums unterscheidet, ist eine radikale Philosophie darüber, was Veränderung fördert.

Wie verändern wir uns? Wie verändern wir uns nicht? Wenn Sie wie viele der Menschen sind, die sich für Focusing interessieren, fühlen Sie sich wahrscheinlich festgefahren oder blockiert in einem oder mehreren Gebieten Ihres Lebens. Da ist etwas an Ihnen oder Ihren Lebensumständen oder Ihren Gefühlen und Reaktionen auf Dinge, das Sie ändern möchten. Das ist nur natürlich. Aber lassen Sie uns nun zwei Wege gegenüberstellen, an diesen Wunsch zur Veränderung heranzugehen.

Ein Weg nimmt Folgendes an: Wenn man will, dass sich etwas ändert, muss man es dazu bringen, dass es sich ändert.  Man muss etwas tun damit. Wir können das den Weg des Tun-und-in-Ordnung-Bringens nennen. Der andere Weg, den wir den Weg des Dabei-Sein-und-Zulassens nennen können, nimmt an, dass Veränderung und Fluss der natürliche Lauf der Dinge sind. Und wenn etwas sich nicht zu verändern scheint, sind es aufmerksame Zuwendung und Bewusstheit, was es braucht – mit einer Haltung, die ihm erlaubt, so zu sein, wie es ist, aber offen bleibt für seine nächsten Schritte.

Unser Alltagsleben ist tief durchdrungen von der Einstellung des Tun-und-in-Ordnung-Bringens. Wenn Sie einer Freundin ein Problem erzählen, wie oft ist deren Reaktion, dass sie Ihnen einen Rat gibt, wie Sie das Problem in Ordnung bringen können. Viele unserer modernen Therapiemethoden enthalten auch diese Einstellung. Die Kognitive Therapie zum Beispiel fordert Sie auf, Ihr Gespräch mit sich selbst zu ändern. Hypnotherapie bringt häufig neue Bilder und Überzeugungen ins Spiel, um alte zu ersetzen. Somit ist die Philosophie des Dabei-Sein-und-Zulassens, die Focusing verkörpert, eine radikale Philosophie. Sie drehtunsere üblichen Erwartungen und Weltansichten um. Es ist fast so, als ob ich Ihnen sagen würde, dass dieser Stuhl, auf dem Sie sitzen, ein Elefant werden möchte, und wenn Sie ihm interessierte Aufmerksamkeit entgegenbringen, wird er anfangen, sich zu verwandeln. Was für eine abenteuerliche Idee! Aber so abenteuerlich klingt es für einen tief verwurzelten Teil von uns, wenn uns gesagt wird, dass eine Angst, die wir fühlen, sich in etwas verwandeln könnte, was überhaupt keine Angst ist, wenn ihr interessierte Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.

Wenn Menschen, die mit Focusing zu tun haben, über „die Weisheit des Körpers“ reden, ist es das, was sie meinen: dass der Felt Sense „weiß“, was sein nächster Schritt sein muss, so sicher, wie ein Baby weiß, dass es Wärme und Behaglichkeit und Nahrung braucht. So sicher, wie ein Radieschensame weiß, dass er zum Radieschen heranwachsen wird. Wir müssen niemals dem Felt Sense sagen, was er werden soll, wir müssen ihn nicht dazu bringen, dass er sich verwandelt. Wir müssen nur die Bedingungen schaffen, die ihm erlauben, sich zu verwandeln, ähnlich wie ein guter Gärtner für Licht und Boden und Wasser sorgt, ohne dem Radieschen zu sagen, dass es eine Gurke werden soll.

Om Mani Padme Hum ?

Da ich immer daran interessiert bin, dich näher kennen zu lernen, würde ich mich sehr freuen, wenn du unter diesen Artikel etwas darüber schreibst, was dich gerade am stärksten zu diesem Thema bewegt. ?

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Literatur:

Es wird darauf hingewiesen, dass dieser Blog nicht zur Diagnose und Behandlung medizinischer und psychischer Erkrankung gedacht ist. Bei einer entsprechenden Indikation wird an die Eigenverantwortung der LeserInnen appelliert, einen fachkundigen und entsprechend ausgebildeten Mediziner, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker aufzusuchen.

Präsenz Trifft Ego

Präsenz Trifft Ego

Ein wunderbarer Artikel zum Thema Ego von Ann Weiser Cornell

Was ist “Ego”?
Ist “Ego” etwas schlechtes, das ausgemerzt werden sollte? Diese Frage höre ich im Moment ziemlich oft, also habe ich mal ein wenig nachgeforscht.

Ich habe herausgefunden, dass es zwei sehr verschiedene Definitionen von “Ego” gibt.
Der Freud’sche Term „Ego“ bezieht sich auf den “strukturierten Teil der Persönlichkeit” (nach Wikipedia), und das beinhaltet die bewusste Wahrnehmung. Außerdem gibt es das buddhistische Ego, und darauf scheinen sich die Fragen meistens zu beziehen. “Ego im buddhistischen Sinne unterscheidet sich sehr vom Freud’schen Ego. Das Ego im Buddhismus ist eine Ansammlung von mentalen Ereignissen… (siehe “An Overview of Buddhism” von Mike Butler)

Ich fand eine ganze Anzahl von Texten, in denen “Ego” im buddhistischen Sinne sehr negativ behandelt wird. Es liest sich so, als ob dies etwas ist, was man besser nicht haben sollte. Zum Beispiel: “Die tiefste Bedeutung der Unwissenheit ist der Glaube in, das Identifizieren mit und das Festhalten an dem Ego, welches wie wir gesehen haben, nichts als ein flüchtiges mentales Phänomen ist.” (“Ego and Desire,” www.mathri.com)

Eckhart Tolle ist einer dieser Autoren. In seinem Buch A New Earth schreibt er: “Das Ego neigt dazu, Haben mit Sein gleichzusetzen: Ich habe, also bin ich. Und je mehr ich habe, desto mehr bin ich. Das Ego lebt von Vergleichen. […] Das Ausmaß der Unfähigkeit des Ego sich selbst zu erkennen und zu sehen, was es tut, ist erstaunlich und unglaublich.”

Diesen Systemen zufolge gibt es also etwas, das “das Ego” genannt wird – und es wird mit so viel Geringschätzung darüber gesprochen, dass man annimmt, dieses “Ego” ist schlecht und sollte ausgemerzt werde,

Ein Prozess, nicht ein Objekt

Wenn man diese Autoren genauer liest, dann wird klar, dass keiner von ihnen tatsächlich dazu rät, zu einem Teil von sich etwas zu sagen wie “Böses Ego! Verschwinde!” Der Buddhismus gliedert sich auf in einen achtfachen Pfad, der u.a. positive Praktiken lehrt, wie die richtige Sichtweise, richtige Intention usw. Tolle empfiehlt einen Wahrnehmungsprozess, der der jetzigen Moment unterstreicht. (Zum Beispiel sagt er auch „Es gibt nichts was du tun kannst, um dich von dem Ego zu befreien.“)

Aber warum entsteht beim Lesen dieser Autoren solch eine starke Tendenz, einen Aspekt von uns so schlecht zu behandeln und anzunehmen, dass es eine gute Idee wäre, zu versuchen es auszumerzen?

Ich denke, dass es mit der Benennung (labeling process) selbst zu tun hat. Was im Kern ein Prozess ist wurde benannt – ein Nomen, ein Etikett. Füge den verachtenden Tonfall hinzu und es entsteht eine klassisches „Verbannen“ eines Aspekts des Selbst.

Wenn das Problem die Benennung ist, was ist dann die Lösung? Ich würde sagen, dass es um eine Veränderung der Sprache geht – und diese neue Sprache bringt eine deutliche Veränderung hinsichtlich dessen mit, wie wir das fragliche Phänomen verstehen, wie wir es behandeln und wie wir damit interagieren.

Anstatt zu sagen “Mein Ego sagt …” oder “Das ist ja nur der Wunsch meines Egos”, wie wäre es stattdessen mit: “Etwas in mir sagt …“ oder „Etwas in mir möchte …“ Indem wir es so ausdrücken, fangen wir an uns dafür zu interessieren, von seiner Warte aus gesehen. Wir machen einen ersten Schritt hin zu einer inneren Beziehung, die zu seiner Transformation führen kann.

Und wenn es einen anderen Aspekt in uns gibt, der dagegen Einspruch erhebt, dann können wir uns dem auch mit freundlichem Interesse zuwenden. Vielleicht entdecken wir, dass ein Anteil von uns es ablehnt, interessiert und mitfühlend mit dem Aspekt zu sein, der “Ego” genannt wird; weil es der Überzeugung ist, dass der “Ego”-Anteil
unvebesserlich, unveränderbar schlecht und falsch ist. Ich kann nicht anders als daran zu denken, wie ähnlich dies zu manchen sozialen oder politischen Überzeugungen ist: “Rede bloß nicht mit dieser Person (oder mit dieser Art von Person), weil die so [BENENNUNG] sind.“ So stagnieren wir, innerlich und auch im Außen..

Angst und Ego

Ich erinnere mich an ein Radiointerview mit einer bekannten New Age Autorin.
Sie sagte “Durch Angst hält das Ego uns klein.” Von meiner Art zu denken enthält dieser Satz Annahmen, die wahrscheinlich nicht zu einer Veränderung beitragen. In anderen Worten: Wenn man die Welt so sieht, dann stagniert man.

Wie bemerkenswert sich all das ändert, wenn wir anstatt das Wort “Angst” zu benutzen davon sprechen würden wie “etwas in mir verängstigt ist.“ Dann fangen wir an, wieder interessiert daran zu werden, was passieren würde wenn man es (dieses Etwas) besser kennenlernen würden. Dieselbe Art von Veränderung passiert, wenn wir
„Ego“ als Prozess und nicht als Objekt behandeln. “Etwas in mir scheint etwas anders in mir klein halten zu wollen.“ Wie interessant! Ich frage mich, was es eigentlich erlebt, dass es das so gerne möchte. (Und ich werde das nicht durch Bücherlesen herausfinden oder durch den Besuch einer Vorlesung über „Ego“. Ich muss mich nach innen wenden und diesen Aspekt zu einem Gespräch einladen, in dem ich der Zuhörer bin … weil ich nicht im Voraus weiss, wie die Antwort lauten wird.)

Präsenz und “Ego”

Präsenz oder Selbst-in-Präsenz (Self-in-Presence), wie Barbara McGavin und ich es jetzt nennen, ist die verkörperte Fähigkeit, mitfühlend und interessiert da zu sein für was immer in uns auftauchen mag. “Was immer auftauchen mag” beinhaltet auch das, was „Ego“ genannt wird. Als präsentes Selbst (Self-in-Presence) bewerten wir nicht als gut oder schlecht, beurteilen nicht und benennen nicht. Beurteilen, bewerten und benennen sind Erfahrungen des partiellen Selbst (partial-self), welches den inneren Kampf und damit auch unser Stagnieren aufrechterhält. Eugene Gendlin sagt es so: „Wir denken, dass wir gut werden, indem wir unsere negativen Gefühle nicht erlauben. Aber das hält sie statisch, Jahr für Jahr dasselbe.” (Let Your Body Interpret Your Dreams, S. 178)

Sobald wir mit einem Aspekt von uns identifiziert sind, welches das Bedürfnis hat zu bewerten und zu benennen und andere Aspekte auszumerzen, dann stagnieren wir. Tragischerweise verhalten wir uns dann zwar mit der Intention uns zu retten, ohne aber Erfolg damit zu haben.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht, dass Buddhismus zu Stagnation führt! Mißverständnisse oder eine falsche Anwendung scheinen die Probleme zu sein. Es mag außerdem Schwierigkeiten mit manchen Unterrichtsarten geben, aber das kann ich natürlich nicht beurteilen.

Soviel weiß ich: Jeglicher Aspekt unseres Erlebens ist auf unsere Seite, versucht uns zu helfen, egal wie negative er erscheinen mag. Dies beinhaltet auch das, was wir „Ego“ nennen, was wir „Kritiker“ nennen und was wir „Verstand“ nennen. Es geht um die mitfühlende Begleitung durch unser präsentes Selbst (Self-in-Presence), durch die eine Verbindung zur Lebensenergie jeglicher unserer Aspekte herstellt werden kann.

Im Original erschienen in: The Focusing Connection, January 2009
Übersetzung: Elmar Kruithoff
http://www.focusing-center.com/gratis/bibliothek/praesenz-trifft-ego.html

 

Om Mani Padme Hum

 

© 4/2018 Renate Hechenberger. Alle Rechte Vorbehalten.

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Foto credit Fun Frog: © Julien Tromeur – Shutterstock/com

Es wird darauf hingewiesen, dass dieser Blog nicht zur Diagnose und Behandlung medizinischer und psychischer Erkrankung gedacht ist. Bei einer entsprechenden Indikation wird an die Eigenverantwortung der LeserInnen appelliert, fachkundige und entsprechend ausgebildete Mediziner, Psychotherapeuten oder Heilpraktiker aufzusuchen.

Literatur: